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Originalarbeit – Mitteilung

Ivan Vladimirovič Mičurin – ein Leben für die Obstzüchtung*

Ivan Vladimirovič Mičurin – a life for fruit breeding

Magda-Viola Hanke
Institut
Julius Kühn-Institut – Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen, Institut für Züchtungsforschung an gartenbaulichen Kulturen und Obst Dresden

Journal für Kulturpflanzen, 66 (1). S. 15–21, 2014, ISSN 1867-0911, DOI: 10.5073/JfK.2014.01.03, Verlag Eugen Ulmer KG, Stuttgart

Kontaktanschrift
Prof. Dr. Magda-Viola Hanke, Julius Kühn-Institut, Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen, Institut für Züchtungs­forschung an gartenbaulichen Kulturen und Obst Dresden, Pillnitzer Platz 3a, 01326 Dresden, E-Mail: viola.hanke@jki.bund.de
Zur Veröffentlichung angenommen
8. Februar 2013

Zusammenfassung

Als einer der bedeutendsten Obstzüchter weltweit gilt Ivan Vladimirovič Mičurin. Dieser Artikel befasst sich mit seinen wissenschaftlichen Leistungen, seinen Erkenntnissen sowie Erfahrungen, die auch für eine moderne Obstzüchtung von Bedeutung sind. Gleichzeitig wird ein Überblick über sein Leben gegeben.

Stichwörter: Obstzüchtung, Russland, Mitschurin

Abstract

One of the most famous fruit breeders worldwide was Ivan Vladimirovič Mičurin. This paper is focusing on his scientific achievements as well as on knowledge and experiences which are still of interest in modern fruit breeding. At the same time an overview on his life is given.

Key words: Fruit breeding, Russia, Mitschurin

Ein Leben für die Obstzüchtung

Auf dem Campus in Dresden-Pillnitz gibt es am Pillnitzer Platz 2 ein Verwaltungsgebäude, heute genutzt von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden, das Mitschurin-Bau heißt (Abb. 1). Als ich neulich in der Bibliothek des Landesamtes für Umwelt und Landwirtschaft, die sich ebenfalls am Pillnitzer Platz befindet, ein Buch suchte, fiel mir zufällig ein Heft zum 100. Geburtstag von I.W. Mitschurin (Anonym, 1955) in die Hand. Das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik hatte „zur Durchführung von Gedenkfeiern und anderer Veranstaltungen anlässlich des 100. Geburtstags des großen sowjetischen Biologen und hervorragenden Umgestalters der Natur I. W. Mitschurin einen Plan“ herausgegeben. Wer war Ivan Vladimirovič Mičurin (1855 bis 1935) (Abb. 2), dessen Namen ein Gebäude in Pillnitz trägt? Was können moderne Obstzüchter heute noch von ihm lernen?*

Abb. 1. Verwaltungsgebäude der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden am Pillnitzer Platz (Fo­to: Hanke).

Abb. 1. Verwaltungsgebäude der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden am Pillnitzer Platz (Fo­to: Hanke).

Abb. 2. Ivan Vladimirovič Mičurin/Aufnahme im Jahr 1934 (Quelle: Mičurin, 1940).

Abb. 2. Ivan Vladimirovič Mičurin/Aufnahme im Jahr 1934 (Quelle: Mičurin, 1940).

Wer bislang nichts von der Mitschurin-Bewegung, den Mitschurin-Zirkeln und der Umgestaltung der Landwirtschaft in den 1950er Jahren in der Sowjetischen Besatzungszone, später DDR, und von der Lehre T.D. Lyssenkos, eines der bedeutendsten Schüler Mičurins, gelesen hat, der sollte sich diese kleine Broschüre zu Gemüte ziehen. Man wird manches besser verstehen.

Als autodidaktischer Naturforscher begann Mičurin bereits im Jahr 1878 mit obstzüchterischen Arbeiten (Tatarincev, 2006). Sein Ziel bestand vor allem darin, neue, bessere und fruchtbarere Obstsorten für die nörd­licheren Gebiete Russlands zu züchten. Dafür richtete er 1888 sogar eine eigene Baumschule ein. Mičurins Ziel war so ungewöhnlich nicht; das Ungewöhnliche daran waren die Mittel und Methoden, mit denen er sein Ziel verfolgte (Mičurin, 1950).

Zunächst begann er aus den Samen bester in- und ausländischer Obstsorten Sämlinge zu gewinnen, die dann einer Auslese unterworfen wurden. Die Auslese der „Besten“ ist ein Verfahren, das seit Jahrhunderten durch den Menschen realisiert worden ist, um die Pflanzen den Bedürfnissen des Menschen anzupassen. Mičurin wählte die Sämlinge aus, die gute Früchte trugen und sich als robust gegenüber den vorherrschenden örtlichen Bedingungen erwiesen. Die Obstsortimente in den Gärten Russlands jener Zeit bestanden ausschließlich aus solchen Zufallssämlingen, die dann einen Sortennamen erhielten. So ist der Name einer der in Russland am meisten verbreiteten Apfelsorten „Antonowka“ wohl damit zu erklären, dass sich in einem Dorf, benannt nach Anton, aus einem Apfelkern ein Baum mit großen, wohlschmeckenden Früchten entwickelt hatte. Basierend auf seinen Arbeiten verstand Mičurin sehr schnell, dass in den nördlichen und mittleren Teilen Russlands, die durch raue klimatische Verhältnisse und kurze Vegetationsperioden gekennzeichnet sind, mit einer Auslesezüchtung an Sämlingen der inländischen Sorten wenig erreicht werden kann, da stets nur geringe qualitative Verbesserungen von Sämlingsgeneration zu Sämlingsgeneration auftreten. Sämlinge von ausländischen Sorten erwiesen sich jedoch zu wenig widerstandsfähig und erfroren im Winter.

Aus diesem Grund war der nächste Schritt, den Mičurin ging, die Realisierung einer Kreuzungszüchtung (Hybridisierung). Er kreuzte ausländische Sorten, die sich durch qualitativ hochwertige Früchte auszeichneten, mit widerstandfähigen heimischen Sorten. Er schrieb, dass auf diese Weise in den Hybridsämlingen die „Erbwerte beider Elternteile“ vereinigt worden sind. Und weiter: „so konnten diese Sämlinge einerseits mit der Schönheit und dem Geschmack ausländischer Sorten, andererseits aber auch mit der Widerstandskraft unserer frostfesten Obstgewächse ausgestattet werden“ (Mitschurin, 1943).

Zur Zeit der intensiven Züchtungsarbeit Mičurins standen ähnliche Aufgaben im Mittelpunkt, wie wir sie heute nicht besser beschreiben würden: „…neue Sorten zu er­zielen, die außer dem Geschmack der Früchte durch äußeres Aussehen, Frosthärte, Immunität gegen Krankheiten und Widerstandsfähigkeit gegen Schädlinge, auch durch den frühen Eintritt der Fruchtbarkeit und die alljährlich reichen Erträge charakterisiert sind.“ (Mitschurin, 1943). Im Verlaufe seines Lebens züchtete Mičurin über 300 neue Obstsorten u.a. bei Apfel, Birne, Süß- und Sauerkirsche, Pflaume, Aprikose, Pfirsich, Mandel, Eberesche, Beerenobst und Weinreben (Schmidt, 1949). Wir wundern uns heute über eine derart große Anzahl an Sorten, wenn ganze Forschungsinstitute stolz sind, wenigsten eine wichtige Sorte am Markt platzieren zu können. Die Anforderungen an neue Sorten zur damaligen Zeit waren mit denen der Gegenwart nicht zu vergleichen (Tatarincev, 1994). Mičurin versah im Grunde fast jeden Sämling, der sich durch eine Verbesserung gegenüber seinen Eltern auszeichnete und deshalb über Jahre vermehrt wurde, mit einem Namen. Dennoch, die besondere Leistung Mičurins bestand darin, dass mit der Einführung der von ihm gezüchteten frostharten Obstsorten der Obstanbau in Gebieten möglich wurde, wo es bis dahin aufgrund der rauen klimatischen Bedingungen Russlands keinen Anbau von Obstbäumen gegeben hatte.

Wenn man von den Obstsorten Mičurins spricht, dann muss man auch die Wege und die Methoden seiner Züchtungsarbeit erwähnen. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten standen zwei Problemkreise: erstens die Hybridisierung von heimischen Sorten/Wildformen mit ausländischen Sorten bei sorgfältiger Auswahl der Eltern hinsichtlich des zu erreichenden Zuchtziels, und zweitens die Erziehung der Hybridsämlinge im Verlaufe ihrer individuellen ontogenetischen Entwicklung. Mičurin war der Ansicht, dass Obstsämlinge durch Erziehung und geeignete Pfropfpartner, die er als Mentor bezeichnete, verändert und angepasst werden können. Damit negierte er die Mendelschen Regeln und betrachtete die erzielten Veränderungen als erblich.

Mičurin führte bei vielen Obstarten Hybridisierungen innerhalb der botanischen Art, innerhalb der Gattung aber auch zwischen den Gattungen durch. Für die Art-Hybridisierungen beim Apfel verwendete Mičurin in großem Umfang „Kitajka“ (deutsch: die Chinesin). Botanisch ist die „Chinesin“ die Apfel-Wildart Malus pruni­folia. Diese Wildart kommt vor allem in Ostsibirien und Nordchina vor (Abb. 3). Die Art M. prunifolia weist eine große Formenvielfalt auf und zeichnet sich durch Frost­resistenz aus. Tab. 1 zeigt eine Auswahl an Apfelsorten aus der Züchtung von Mičurin, die aus der bekannten russischen Sorte „Antonowka“, die noch heute aufgrund ihrer Resistenz gegenüber Apfelschorf von großem Interesse für die Obstzüchtung ist, sowie aus Kreuzungen mit Wildarten entstanden sind. Bei Birne verwendete Mičurin für die Einkreuzung der Frostresistenz Pyrus ussuriensis, welche heute zunehmend wieder zur Einkreuzung der Resistenz gegenüber Feuerbrand genutzt wird (Bokszczanin et al., 2009 und 2012). In der Züchtung bei Kirsche wurden die Wildarten Prunus fruticosa, P. pennsylvanica, P. tomentosa, P. japonica und P. padus Maackii und bei Pflaume P. insititia, P. triflora, P. mand­shurica, P. sibirica, P. hortulana und P. spinosa verwendet.

Abb. 3. Malus prunifolia wurde häufig von Mičurin als Kreuzungspartner verwendet (Bild: Acc. MAL0756 der Obstgenbank, JKI Dresden).

Abb. 3. Malus prunifolia wurde häufig von Mičurin als Kreuzungspartner verwendet (Bild: Acc. MAL0756 der Obstgenbank, JKI Dresden).

Tab. 1. Zusammenstellung einiger wichtiger Apfelsorten, die von I.V. Mičurin gezüchtet worden sind (nach: Mičurin, 1940; Schmidt, 1949)

Sortenname

Synonyme

Eltern

Bemerkung

Mutter

Vater

Nachkommen von Antonowka-Kreuzungen

Antonowka schafranaja

Safran-Antonowka

Antonowka

Orleans-Renette

 

Antonowka polutorafuntowaja (schestisot-
gram­mowaja)

Anderthalbpfündiger A.;
A. sechshundert Gramm

Antonowka Mogilewskaya belaja
(Weißer Mogilew-
An­tonowka)

Sprossmutante

Antonowka zheltaja

Gelber Antonowka

Antonowka

Weißer Winterkalvill

frostresistent, schorfresistent (?)

Jachontowoje

Jahon

M. niedzwetzkyana

Antonowka

rotblättrig, rotfleischig, rotlaubig

Renet bergamotnyi

Bergamotte Renette

Antonowka polutora­­funtowaja freiabgeblüht

  

Slawjanka

 

Antonowka

Ananas-Renette

 

Kreuzungen mit Malus prunifolia und anderen Wildarten

Anis-Kitajka

Kitajka Anisowa

Anis-Apfel

M. prunifolia

 

Bellefleur-Kitajka

 

Gelber Bellefleur

M. prunifolia

frostresistent, blütenfrostresistent

Borsdorf-Kitajka

 

Zwiebelborsdorfer

M. prunifolia

 

Coulon-Kitajka

Kulon-Kitajka

Coulons Reinette

M. prunifolia

 

Flawa

 

M. prunifolia

Goldrenette von Blenheim

frostresistent

Kandil-Kitajka

 

M. prunifolia

Kandil-Sinap

frostresistent

Kitajka zolotaja rannaja

Goldgelber Kitajka

Weißer Klarapfel

M. prunifolia

 

Pomona-Kitaika

 

Sämling von Cox Pomona

M. prunifolia

 

Pepin-Kitajka

Pepping-Kitajka

Litauischer Pepping

M. prunifolia

 

Pepin schafranyi (Abb. 7)

Safran-Pepping, Pepin shafranyi, Pepping shafranyi

Orleans-Renette

(M. prunifolia × Englischer Pepping)

frostresistent

Schafran-Kitajka

Safran-Kitajka

Orleans-Renette

M. prunifolia

 

Schampanren-Kitajka

Champagner-Kitajka

M. prunifolia

Weißer Winterkalvill

 

Tajeschnoje

Tajeznoje

Kandil-Kitajka

M. baccata

 

Nachkommen mit Malus-Wildarten im Stammbaum

Bellefleur-Feniks

Bellefleur-Phönix

Bellefleur-Kitajka

Gelber Bellefleur

 

Bellefleur krasnji

Roter Bellefleur (Mitschurins)

Bellefleur-Kitajka

Jachontowoje

rotfrüchtig, rotlaubig, rotes Fruchtfleisch

Bellefleur-Rekord

 

Bellefleur-Kitajka

Jachontowoje

frostresistent, rotfrüchtig, hellrosa Fruchtfleisch

Bessemjanka Mitschurinskaja

Michurins Kernloser

Skrischapel freiabgeblüht

Skrischapel × Komsinsk-Samenloser

frostresistent, meistens samenlos

Komsomol-Apfel

 

Bellefleur-Kitajka

Rubinroter Apfel

rotfleischig

Rosmarin-Feniks

Rosmarin-Phoenix

Bellefleur-Kitajka

Tiroler Rosmarin

 

Sinap Michurina

 

Kandil-Kitajka freiabgeblüht

  

Mičurin erkannte auch die Bedeutung von Obstunterlagen und deren formgestaltenden Einfluss auf die darauf veredelten Sorten. Fortan widmete er sich der Züchtung schwachwüchsiger Unterlagen, deren Wert in frostgefährdeten Gebieten besonders hoch ist. Zwergwüchsige Obstgehölze sind in kalten Wintern im Falle einer aus­reichenden Schneedecke nicht so stark dem Frost ausgesetzt. In der Unterlagenzüchtung vertraute er ebenfalls auf Artkreuzungen. Verwendung fanden u.a. bei Apfel M. prunifolia, M. pumila var. paradisiaca und M. baccata. Bei Steinobst setzte er auf Obstsorten, die natürlichen Zwergwuchs aufwiesen. Aus diesen Arbeiten entstanden ganz neuartige Klassen an Kirschen, wie die buschförmigen Strauchweichseltypen, die Pennsylvanica-Bastarde, die japanische Kirsche und die Filzkirsche. Seine wohl eigenartigsten Kirschenzüchtungen sind die Mičurinschen Traubenkirschen (P. cerasus × P. padus Maackii), die er als „Cerapadus“ bezeichnete. Inzwischen gibt es in Russland eine Reihe von Sorten des Cerapadus-Typs, die sich durch Frosthärte sowie Resistenz gegenüber verschiedenen Pilzkrankheiten auszeichnen.

Um seine Kreuzungsarbeiten umsetzen zu können, legte Mičurin eine große Sammlung von genetischen Ressourcen aus unterschiedlichen Regionen der Erde an. Heute bezeichnen wir solche Sammlungen als Genbank. Diese Leistung Mičurins schätzte besonders N.I. Vavilov, der wohl bedeutendste russische Botaniker, Genetiker und Forschungsreisende dieser Zeit. Er stellte heraus, dass die wertvollste Leistung Mičurins darin bestand, als erster Naturforscher verstanden zu haben, welche große Bedeutung für eine Obstzüchtung die Einbeziehung von Genressourcen aus allen Teilen der Welt hat. Mičurin hatte als erster den Wert der wilden Formen von Obstgewächsen in den Wäldern des Fernen Osten, des Kaukasus und anderer Bergregionen erfasst (Saveljev, 2005).

Als Mičurin mit der Kreuzungszüchtung bei Obstbäumen begann, stellte er sehr schnell fest, dass nach Kreuzung zweier Elternpflanzen eine hohe Mannigfaltigkeit unter den Nachkommen entsteht. In keinem Fall treten Hybridsämlinge mit den selben Eigenschaften auf. Sogar die Samen einer Frucht, die auf dem Wege einer Kreuzung erhalten wurden, ergaben Sämlinge mit verschie­denen Eigenschaften (Mitschurin, 1943). Die Erklärung für diese Tatsache fand er darin, dass äußere Faktoren in Verbindung mit ererbten Eigenschaften (innere Faktoren) treten. Auf der Basis der in der praktischen Züchtungs­arbeit erreichten Ergebnisse stellte sich Mičurin immer wieder die Frage, wie die Mendelschen Vererbungsgesetze und die Theorie über Chromosomen bei Obstgewächsen Anwendung finden können. Den Erfolg der Obstzüchtung schrieb er im Wesentlichen dem Einfluss der äußeren Faktoren zu, die die Vererbung von inneren Faktoren beträchtlich beeinflussen (z.B. Alter und Wachstum der Mutterbäume, Düngung der Sämlinge, Bodenbeschaffenheit bei der Sämlingsanzucht, Historie der Vorfahren eines Sämlings, Veredelungsmethoden) (Mičurin, 1940; 1950). Seine Theorie besagte, dass die Entwicklung des pflanzlichen Organismus auf erworbenen Eigenschaften beruht, die von äußeren Faktoren der Umwelt bestimmt werden (Mičurin, 1940). So stellte er fest, dass Hybridsämlinge
in der ersten Zeit ihrer ontogenetischen Entwicklung, noch bevor ihre Eigenschaften „gefestigt“ waren, durch vegetative Vermehrung ihre Eigenschaften verändern, verlieren und neue Eigenschaften annehmen können, die dann auch vererbt werden (Mitschurin, 1943). Die biologische Hypothese, dass ein starker Umwelteinfluss in seiner Gesamtheit mit den Erbeigenschaften und der historischen Herkunft des Organismus einen außerordentlich formenden Effekt auf den jungen, sich entwickelnden pflanzlichen Organismus hat, wurde zunehmend in der Zeit des Stalinismus auf die Entwicklung der kommunistischen Gesellschaft übertragen. In diesem Zusammenhang wurde Mičurin in der sowjetischen Gesellschaft auch als Nachfolger Darwins und seiner Evolutionstheorie dargestellt.

Um diese Auffassungen zu verstehen, muss man sich zunächst vor Augen führen, unter welchen gesellschaftspolitischen Umständen Mičurin tätig war und dass Entdeckungen der modernen Biologie gerade im Entstehen waren. Die Entwicklung der Genetik stand am Anfang. Gregor Mendel hatte auf der Basis von Kreuzungsexperimenten die Existenz von Faktoren (später als Gene bezeichnet) als Erbträger erkannt. Sein Vortrag vor dem Verein der Naturforscher 1865 in Brno (Brünn, Tschechische Republik) blieb jedoch weitgehend unbeachtet. Erst im Jahre 1900 wurden die Mendelschen Gesetze der Vererbung durch Carl Correns, Hugo de Vries und Erich von Tschermak-Seysenegg wiederentdeckt. Die zellulären Mechanismen der Vererbung haben Walter S. Sutton und Theodor Boveri 1902 in der Chromosomentheorie der Vererbung zusammengefasst. Den Durchbruch zu einer modernen Wissenschaft brachten der Genetik im Jahre 1944 die Arbeiten von Oswald Th. Avery, der erkannte, dass die DNA die stoffliche Basis für die Übertragung der Erbinformation ist. Diese Zeit erlebte Mičurin schon nicht mehr. Ob er die wissenschaftlichen Leistungen dieser Zeit bis zu seinem Tod eingehend nachverfolgen konnte, ob er tatsächlichen Zugang zu Informationen aus dem Ausland hatte, bleibt unbekannt. Mičurins Arbeiten standen im Brennpunkt vererbungswissenschaftlicher Aus­einandersetzungen. Die von ihm in unzähligen Kreuzungen und Experimenten zur Sämlingsanzucht und Veredelung von Sämlingen erreichten Ergebnisse und Erkenntnisse, die er akribisch und detailliert zu Papier brachte, versuchte er entsprechend aus seiner Sicht zu interpre­tieren. Seine Interpretationen wurden missbraucht, um politisch gegen Genetiker in der Sowjetunion und weltweit gegen die Vererbungslehre vorzugehen.


Wesentliche Erfolge Mičurins in der praktischen Obstzüchtung besitzen jedoch noch heute eine weitreichende Bedeutung für die Züchtung bei Obstarten.

• Seine Arbeiten waren eine Pionierleistung bei der Züchtung frostwiderstandsfähiger Sorten. Durch Einführung dieser Sorten in den Obstbau wurden unwirtliche Räume Russlands für den Obstbau erschlossen. Dem Zuchtmerkmal Frostfestigkeit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit im Zeitalter des Klimawandels auch in Europa weiteres Interesse zukommen.

• Erstmals wurden durch Mičurin wilde, verwandtschaftlich und geografisch den Kulturformen fernstehende Obstarten in Kreuzungen einbezogen, die aus Gebirgsgegenden des Territoriums der ehemaligen Sowjet­union, aber auch aus Ostasien und Nordamerika stammen. Diese Wildarten waren in ihrer Fruchtqualität unbefriedigend, vererbten jedoch Eigenschaften, die in den Kultursorten nicht zu finden waren. Heute ist diese Vorgehensweise mehr als aktuell. Immer mehr Wildarten spielen in den Züchtungsprogrammen der Welt eine Rolle, um die Resistenz gegenüber abiotischem und biotischem Stress zu verbessern oder den gesundheitlichen Wert der Früchte zu steigern. Die bereits von Mičurin verwendete Wildart M. niedzwetzkyana wird heute z.B. wieder verstärkt als Kreuzungspartner eingesetzt, um rotfleischige Apfelsorten zu züchten.

• Mit der Methode der wiederholten Kreuzungen verwendete Mičurin ein Verfahren, das zur damaligen Zeit bahnbrechend war, heute jedoch den Grundstein jedes Zuchtprogramms darstellt. Die Auffassung bestand darin, dass im Anschluss an die Hybridisierung zwischen Kultursorte und Wildart mehrere Rückkreuzungen mit Kultursorten nötig sind, um Resistenz mit Fruchtqualität zu kombinieren. Mičurin schrieb damals, dass ohne wiederholte Kreuzung mit Qualitätssorten in der zweiten Generation „eine Schwächung der guten Eigenschaften“ eintritt (Mitschurin, 1943). Aufgrund der Selbststerilität vieler Obstarten werden in Zuchtprogrammen stets Rückkreuzungen mit unterschiedlichen Kultursorten durchgeführt, um einen Fruchtansatz zu erreichen.

• Mit seinen Artkreuzungen sowohl innerhalb der Gattung Malus als auch der Gattung Prunus legte Mičurin die Grundlage für weitere Arbeiten im Rahmen der Unterlagenzüchtung, die von seinen Nachfolgern weitergeführt worden sind. In den USA und in Europa ist insbesondere V.I. Budagovskij mit den Ergebnissen zu schwachwachsenden frostfesten Apfelunterlagen, z.B. Bud 9, bekannt geworden. Auch in Deutschland wurden die Ideen Mičurins in der Züchtung umgesetzt, insbesondere in der Artbastardierung bei Malus und Prunus.

Mičurins Lebensweg

Ivan Vladimirovič Mičurin wurde am 27. (15). Oktober 1855 als siebentes Kind eines kleinen Gutsbesitzers in der Nähe des Dorfes Dolgoe-Mičurovka im Bezirk Pronzk, Gouvernement Rjazan‘, geboren. Die älteren Geschwister verstarben frühzeitig; Ivan verlor seine Mutter als er vier Jahre alt war. Die Familie zählte zum verarmten Land­adel. Frühzeitig befasste sich der Junge mit der Natur, da er oft auf sich allein angewiesen war. Er stellte Pflanzenbeobachtungen an, die er in seinem Tagebuch festhielt, pflanzte selbst Obstbäume, erlernte als kleiner Junge die Techniken des Veredelns und legte Samensammlungen an. Nach Beendigung der Schulzeit 1872 nahm Ivan Vladimirovič eine Stelle im Handelsbüro der Kozlovschen Eisenbahn an, wurde aber alsbald entlassen. Im Jahre 1874 heiratete Mičurin Aleksandra Vasilevna Petrušina, die Tochter eines Arbeiters und damit unter seinem Stand. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, ein Sohn Nikolaj und eine Tochter Maria. Zunächst lebte die Familie in schlechten finanziellen Verhältnissen, da Ivan Vladimirovič sich und die Seinen lediglich mit Nebenbeschäftigungen über Wasser hielt. Ab 1877 nahm er erneut eine Stelle bei der Eisenbahnverwaltung an. Wiederum erwachte sein Bestreben, selbst Gartenbau zu betreiben. Er fasste den Entschluss, Versuche anzustellen, vor allem zur Akklimatisation von Obstgewächsen aus wärmeren Regionen Russlands in nördlicheren Gebieten. Zu diesem Zweck pachtete er ein kleines verwildertes Grundstück. Der Zeitraum zwischen 1877 und 1888 war für die Familie existentiell sehr schwer und von ständiger Not gekennzeichnet. Mičurin eröffnete seine Baumschule, musste aber gleichzeitig bei der Eisenbahnverwaltung tätig bleiben, um die Kosten für die Baumschule bestreiten zu können. Im Jahr 1888 kaufte Mičurin ein großes Grundstück in der Nähe von Kozlov, auf dem er seine Sämlinge und die Baumsammlungen unterbrachte. Später erbaute er dort auch das Wohnhaus der Familie. Seine Stellung bei der Eisenbahn gab er auf und widmete sich vollkommen der Obstzüchtung. Im Verlaufe seiner Züchtungsarbeit kam Mičurin zur Auffassung, dass die Umwelt einen großen Einfluss auf die Merkmalsausprägung an den jungen Sämlingen hat. Er meinte, dass man die Sämlinge während ihrer Jugendentwicklung nicht verweichlichen darf, sondern sie spartanisch erziehen muss. Dies führte dazu, dass er sein Grundstück und die Versuchsbaumschule, die ihm aufgrund des nahrhaften Schwarzerdebodens ungeeignet für die Sämlingsanzucht erschien, verkaufte. Das neue Grundstück für die Versuchsbaumschule war Ödland und wurde später Teil des Mičurinschen Forschungsinstituts. Die Arbeiten Mičurins fanden im Zaristischen Russland keine Anerkennung, erst nach der Oktoberrevolution erhielt er staatliche finanzielle Unterstützung und Förderung für seine Forschung.

1928 wurde die Versuchsbaumschule in eine Versuchsstation für Züchtung und Genetik umgebildet, die dann 1934 den Namen „Zentrales Genetisches Laboratorium I.V. Mičurin“ erhielt. Hier wirkte Mičurin als Direktor von der Gründung bis zu seinem Lebensende. Heute trägt diese Forschungseinrichtung den Namen Allrussisches Forschungsinstitut für Genetik und Züchtung bei Obstgewächsen I.V. Mičurin der Russischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften. Gleichzeitig wurde 1930 auf Initiative von Mičurin in Kozlov zunächst eine Zentrale Versuchsstation für Baum- und Beerenobst gegründet, die später zum Zentralen Forschungsinstitut für Obstbau der nördlichen Gebiete reorganisiert wurde und seit 1963 die zentrale Forschungseinrichtung auf dem Gebiet des Obstbaus in der Sowjetunion war. Heute ist diese Forschungseinrichtung das Allrussische Forschungsinstitut für Obstbau I.V. Mičurin der Russischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften (Abb. 6).

Abb. 6. Allrussisches Forschungsinstitut für Obstbau „I.V. Mičurin“ der Russischen Akademie für Landwirt­schaft in Mičurinsk (Foto: Hanke).

Abb. 6. Allrussisches Forschungsinstitut für Obstbau „I.V. Mičurin“ der Russischen Akademie für Landwirt­schaft in Mičurinsk (Foto: Hanke).

1932 wurde zu Ehren Mičurins die Stadt Kozlov in Mičurinsk umbenannt. Mičurin verstarb am 7. Juni 1935. Er hinterließ einen umfangreichen wissenschaftlichen Nachlass (Bacharev, 1948; Schmidt, 1949). Sein Wohnhaus ist heute Museum (Abb. 4 und 5) der Stadt Mičurinsk, im Gebiet Tambov.

Abb. 4. Wohnhaus von I.V. Mičurin in Mičurinsk, heute ein Museum (Foto: Hanke).

Abb. 4. Wohnhaus von I.V. Mičurin in Mičurinsk, heute ein Museum (Foto: Hanke).

Abb. 5. Mičurins Arbeitszimmer in seinem Wohnhaus (Fo­to: Hanke).

Abb. 5. Mičurins Arbeitszimmer in seinem Wohnhaus (Fo­to: Hanke).

Literatur

Anonym, 1955: Zum 100. Geburtstag I.W.Mitschurins. Methodischer Brief (2). Ministerium für Land- und Forstwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik.

Bacharev, A., 1948: Ivan Vladimirovič Mičurin: biografičeskij očerk. In: I.V. Mičurin. Sočinenija v čentyrech tomach. Moskva, Gosselchozizdat.

Bokszczanin, K., L. Dondini, A.A. Przybyla, 2009: First report on the presence of fire blight resistance in linkage group 11 of Pyrus ussuriensis Maxim. Journal of Applied Genetics 50 (2), 99-104.

Bokszczanin, K.L., A.A. Przybyla, M. Schollenberger, D. Gozdowski, W. Madry, S. Odziemkowski, 2012: Inheritance of fire blight resistance in asian Pyrus species. Open Journal of Genetics 2, 109-120.

Mičurin, I., 1940: Sočinenija, tom II (russ.). Selchozgiz, Moskva, Leningrad.

Mitschurin, I.W., 1943: Gedanken und Erkenntnisse. Ergebnisse 60jähriger Züchtungsarbeit mit Obstsorten Frankfurt-Oder, Berlin, Posen, Gartenbauverlag Trowitzsch & Sohn.

Mičurin, I., 1950: Itogi šestidesjatiletnich rabot (russ.). Izdatel'stvo Akademii Nauk SSSR.

Saveljev, N., 2005: Ivan Vladimirovič Mičurin i ego naučnoe nasledie (russ.). Izdatel'stvo Julis, Tambov.

Schmidt, M., 1949: Mitschurin. Leben und Werk: Methoden, Anschauungen, Erfolge des großen russischen Pflanzenzüchters. Berlin, Deutscher Bauernverlag.

Tatarincev, A.S., 1994: Ivan Vladimirovič Mičurin. Moskva, Verlag Kolos.


Fußnoten:

*  

Für die Wiedergabe der kyrillischen Schreibweise mit lateinischen Buchstaben wurde die wissenschaftliche Transliteration nach ISO 9:1995 verwendet.

ISSN (elektronisch): 1867-0938
ISSN (print): 1867-0911
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