Harry Potter und das Assistenzsystem des Binären
Journal für Kulturpflanzen, 73 (5-6). S. 109–109, 2021, ISSN 1867-0911, DOI: 10.5073/JfK.2021.05-06.01, Verlag Eugen Ulmer KG, Stuttgart
Dies ist ein Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (CC BY 4.0) zur Verfügung gestellt wird (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de). This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 International License (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.en). |
Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich einen guten alten Reisigbesen vor. Nicht so einen polierten und geschniegelten NIMBUS 2000 mit gleich langen und in Form gebrachten Weidenruten, wie ihn Harry Potter fliegt, sondern eher das krumme und knorrige Modell der kleinen Hexe von Otfried Preußler. Wenn Sie von diesem Besen den Stiel kürzen oder gar entfernen, halten Sie ein solides Stück historischer Anwendungstechnik in Ihren Händen. In einen Eimer mit Kalkmilch getunkt, kann man damit hervorragend mit leichten Schwüngen aus dem Handgelenk Tropfen generieren. Mit etwas Übung bekommt man dieses milchige Fluid mit fungizider Wirkung sogar halbwegs verteilt auf oder in einen Pflanzenbestand appliziert. Dies war wohl einer der Anfänge der Pflanzenschutztechnik. Dem gegenüber muten die ersten Pflanzenschutzspritzen – rückengetragen, mit Druckbehälter, Schlauch, Handstück und Düse – als Meilenstein der Technik an. Vor einem ähnlichen Wendepunkt stehen wir heute, wenn wir über die Aussichten der Digitalisierung im Pflanzenschutz reden.
Mit den digitalen Möglichkeiten rückt die teilflächenspezifische Applikation – seit Jahrzehnten eine Zukunftsvision des Pflanzenschutzes, getreu dem Motto „so viel wie nötig, so wenig wie möglich“ – in die Reichweite des Machbaren. Bislang fehlte es dazu noch an den wichtigsten Bausteinen: direkteinspeisungsfähige Applikationstechnik sowie Sensorik, die Krankheiten oder Schaderreger im Bestand erkennen und diese Information in Applikationskarten übertragen können. Systeme mit unter Praxisbedingungen funktionierender Direkteinspeisung werden seit 2017 in Deutschland verkauft. An der Sensortechnik wird in vielen Unternehmen und Arbeitsgruppen – mit ermutigenden Ergebnissen – immer noch entwickelt und geforscht. Mit praxistauglichen Systemen kann wohl erst in den nächsten Jahren gerechnet werden.
Je mehr man sich aber mit der teilflächenspezifischen Applikation unter Praxisbedingungen auseinandersetzt, desto deutlicher wird, dass es noch an weiteren wichtigen Bausteinen fehlt. Wir verfügen derzeit weder über ausgereifte Applikationsstrategien, die das Schadschwellenkonzept integrieren, noch über solche, welche die Auswirkungen einer nur teilflächig vollzogenen Applikation über die Zeit schlagspezifisch im Rahmen der Fruchtfolge berücksichtigen. Hier liegen weitere spannende Herausforderungen für die Zukunft. Was wir Ihnen in diesem Themenheft allerdings mit gewissem Stolz präsentieren möchten, sind Lösungen für einen weiteren entscheidenden Schritt: Eine digitale Infrastruktur, mit der der gesamte Prozess der teilflächenspezifischen Applikation, von der Planung, über die Vorbereitung bis zur Dokumentation gehandhabt werden kann. Dieses digitale Assistenzsystem ist die Basis für den Einzug der teilflächenspezifischen Applikation in die Praxis, auf deren Grundlage die zukünftig notwendigen Applikationsstrategien erst entwickelt werden können.
Legen Sie also bitte jetzt den gedanklich erzeugten Reisigbesen für einen Moment an die Seite – Sie dürfen nach der Lektüre gerne wieder mental Tropfen generieren – und blättern Sie weiter zu den sieben nachfolgenden Beiträgen mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre dieses Themenheftes!