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Journal für Kulturpflanzen, 75 (07-08). S. 212–215, 2023 | DOI: 10.5073/JfK.2023.07-08.09 | von Tiedemann

Nachrichten
Andreas von Tiedemann

Zur Rolle der Wissenschaft für eine verantwortungsvolle Regulierung des Pflanzenschutzes

Wissenschaftlicher Vortrag anlässlich der Verabschiedung des Vizepräsidenten des JKI Dr. Peter Zwerger am 27.6.2023 in Braunschweig

Affiliation
Georg-August-Universität Göttingen, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Abteilung für Pflanzenpathologie und -schutz, Göttingen.
Kontaktanschrift
Prof. Dr. Andreas von Tiedemann, Georg-August-Universität Göttingen, Department für Nutzpflanzenwissenschaften, Abteilung für Pflanzenpathologie und -schutz, Grisebachstr. 6, 37077 Göttingen, E-Mail: atiedem@gwdg.de

Die Verabschiedung eines geschätzten Kollegen, wie Sie es, lieber Herr Zwerger, für mich sind, hat zwangsläufig immer auch eine historische Dimension, blickt man doch auf die berufliche Lebensgeschichte eines verdienten und an herausragender Stelle tätigen Wissenschaftlers, die immer auch etwas gemeinsame Geschichte ist. Es ist daher vielleicht angemessen, auch für das Thema, welches ich mir heute gestellt habe, eine historische Perspektive einzunehmen, auch wenn – wie ich aber erst zu spät gemerkt habe –, die damit verbundene Herausforderung nicht gerade kleiner wird.

Dennoch erkennt man leider oft erst im fortgeschrittenen Alter den Wert der geschichtlichen Perspektive für ein besseres Gegenwartsverständnis und gelangt zu der Erkenntnis, dass manche heute heiß geführte Debatte durch mehr Geschichtsbewusstsein leicht auf behagliche Zimmertemperatur heruntergekühlt werden könnte.

Die Rolle der Wissenschaft in ihrer Wechselwirkung mit der Entwicklung des Pflanzenschutzes soll also mein Thema sein. Sie ist – wie in anderen Technikbereichen auch – eine sich wechselseitig bedingende Geschichte. So hat Wissenschaft vielfach die Grundlagen für Innovationen gelegt, während die Notwendigkeiten des praktischen Pflanzenschutzes ihrerseits und rückwirkend die Schwerpunkte und Ausrichtung der relevanten Forschungsfelder beeinflusst hat. Nur ein ganz simples Beispiel: Pflanzenschutzmittel wären niemals entwickelt worden, würde die Praxis sie nicht brauchen. So ist auch der praktische Pflanzenschutz selbst immer auch ein Innovationstreiber gewesen.

Betrachtet man die wechselseitige Geschichte von Wissenschaft und Pflanzenschutz etwas näher, so möchte ich sie in drei verschiedene historische Epochen unterteilen und kurz skizzieren. Diese drei von mir wahrgenommenen Epochen unterscheiden sich durch markante geschichtliche Ereignisse und inhaltliche Schwerpunkte mit ganz unterschiedlichen Auswirkungen auf die Pflanzenschutzpraxis.

Fundamentale Voraussetzung für die erste Epoche des Pflanzenschutzes war die Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Erst sie hat die Grundlagen auch für den Pflanzenschutz gelegt. Gemeint ist hier wie auch im weiteren Vortrag der direkte, intervenierende, also vor allem der chemische Pflanzenschutz. Voraussetzung und entscheidende Leistung der Aufklärung war der Paradigmenwechsel von der Vorstellung zur Ursache von Pflanzenkrankheiten als einer umweltbedingten Fäulnis hin zu einem parasitologischen Verständnis, das heißt, der Erkenntnis, dass Mikroben nicht Folge, sondern Ursache von Pflanzenkrankheiten sind. Erst als sich diese Erkenntnis gegen das beharrliche Denken der deutschen Romantik durchgesetzt hatte, wurde das mögliche Ziel von direkten Pflanzenschutzmaßnahmen überhaupt definierbar und greifbar.

Wenn ich mich hier vor allem auf pilzliche Krankheiten beziehe, ist das nicht Selbstverliebtheit in die eigene Fachdisziplin – was angesichts des heute zu verabschiedenden herbologischen Kollegen auch ganz unangemessen wäre –, sondern rührt daher, dass sich für diesen Paradigmenwechsel verantwortliche Wissenschaftler wie Tillet, deBary, Berkeley oder Kühn im Wesentlichen mit pilzlichen Schaderregern beschäftigt haben.

So ist es ganz folgerichtig, dass sich das vermutlich erste, systematisch im Feld ausgebrachte Pflanzenschutzmittel gegen eine im weitesten Sinne pilzliche Krankheit richtete, nämlich den nach Europa eingeschleppten Falschen Rebenmehltau. Rettung in letzter Not brachte 1885 erstmals der Einsatz von Kupferkalkbrühe in den Weinbergen um Bordeaux und später in allen Weinbauregionen der Welt.

Damit war die erste Epoche des Pflanzenschutzes eingeleitet. Ich würde sie als die Gründerphase einer ganz neuen Technologie bezeichnen, die die 11.000 Jahre alte Agrikultur revolutioniert hat. Die Rolle der Wissenschaft war hierfür essentiell, als unmittelbarer Bereitsteller von Lösungen und damit direkter Innovationstreiber. Die Beispiele reichen von Pierre-Marie Alexis Millardet, dem Botanik-Professor an der Universität Bordeaux und Entdecker der fungiziden Wirkung von Kupfer bis hin zu Paul Müller, Nobelpreis für Medizin 1948, für die Entdeckung der insektiziden Wirkung von DDT.

Die amtliche Regulierung des Pflanzenschutzes war in dieser Periode noch ein zartes Pflänzlein, ausschließlich geleitet von dem Ziel, die inländische landwirtschaftliche Produktion zu schützen, insbesondere vor der Einschleppung von Schaderregern von außen. Wie für die Wissenschaft stand auch für die staatliche Regulierung das Ziel der Ermöglichung und Beförderung neuer Pflanzenschutztechnologien klar im Vordergrund. Ein öffentliches In­te­res­se am Thema Pflanzenschutz existierte in dieser Periode nicht.

Das änderte sich mit Beginn der zweiten Epoche. Ihren Beginn markiert das weithin bekannte und viele Menschen aufrüttelnde Buch „Silent Spring“ von Rachel Carson, erschienen im September 1962 in den USA. Heute würde man Rachel Carson als bedeutende Influencerin ihrer Zeit bezeichnen, das Time Magazine hat sie zu einer der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts erklärt. Weitaus weniger einflussreich, ja gänzlich unbekannt ist dagegen das drei Jahre später erschienene Buch „Damit wir leben können“ von Jamie L. Whitten, der Carsons Thesen einer kritischen wissenschaftlichen Analyse unterzieht und vor allem auf den von Carson gänzlich vernachlässigten Nutzen des Pflanzenschutzes hinweist. Ganz im Gegensatz zu „Silent Spring“ ist Whittens Buch heute unbekannt und nicht mehr erhältlich.

Wie auch immer man aber die Aussagen Carsons bewertet, sie markieren den Beginn eines vorher nicht dagewesenen öffentlichen Interesses am Pflanzenschutz, sie waren und sind Zündfunke für die Entstehung von Graswurzelbewegungen, die in die Gründung der zahlreichen technologiekritischen NGOs mündeten, die wir heute in diesem Sektor kennen und erweckten erstmals ein allgemeines öffentliches Umweltschutzbewusstsein.

Carsons Besorgnis bezog sich auf die möglichen Folgen einer ungehemmten Anwendung von DDT für Mensch und Umwelt. Diese wiederum war Ausdruck des generellen Booms der chemischen Industrie nach dem zweiten Weltkrieg, der auch den Pflanzenschutzmittelsektor erfasste. Als Folge wandert in dieser Phase die innovative Entwicklung von Pflanzenschutzmitteln von den akademischen Forschungsinstitutionen in die Industrielabore ab. Wirkstoffsuche und Pflanzenschutzmittelentwicklung sind fortan Gegenstand von Industrieforschung. Nur noch vereinzelt kommen Impulse aus den Universitäten, ein Beispiel sind die Strobilurine, deren Grundmolekül ein Ergebnis akademischer Forschung war. Stattdessen widmet sich die öffentliche Wissenschaft fortan der Erforschung von biologischen Aspekten von Krankheiten, Schädlingen oder Unkräutern sowie deren Schadwirkung im Kontext von Anbausystemen, entwirft und bewertet prinzipielle Bekämpfungsstrategien und entwickelt Werkzeuge des integrierten Pflanzenschutzes wie Schadenschwellen, Prognosesysteme oder Alternativen zum chemischen Pflanzenschutz.

In der öffentlichen Agrarforschung zum Pflanzenschutz tauchen aber auch erstmals Themen auf wie Nebenwirkungen von Herbiziden auf das Bodenleben, oder Wirkung von Insektiziden auf Nützlinge, zum Verhalten von Pflanzenschutzmitteln in den Kompartimenten Boden, Wasser und Luft, sowie generell Fragen der Gestaltung eines nicht nur wirksamen, sondern auch möglichst umweltschonenden und risikoarmen Pflanzenschutzes, der also auch die Technologiefolgen in den Blick nimmt.

So lässt sich die Rolle der Wissenschaft in der zweiten Epoche etwa so beschreiben: Unter stärkerer Berücksichtigung der Nebenwirkungen weiter funktionsverbessernd, durch Wirkstoffverbesserung seitens der Industrie und durch Systemverbesserung im Sinne eines integrierten und umweltgerechten Pflanzenschutzes seitens der öffentlichen Institutionen. Parallel und getragen von der allgemeinen Umweltbewegung wächst seit den achtziger Jahren aber das öffentliche In­te­res­se an Landwirtschaft und wird zu einem zunehmend starken Einflussfaktor auch auf den Pflanzenschutz.

Die dritte Epoche auf unserer kleinen geschichtlichen Reise durch die sich wandelnden Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Pflanzenschutz ist natürlich die interessanteste, denn sie reicht bis in die Gegenwart. Allerdings ist ihr Beginn nicht mehr so klar an einem bestimmten Ereignis festzumachen. Vermutlich müssen mehrere Ereignisse und Zeitströmungen zur Erklärung herangezogen werden.

Vor dem Hintergrund von ­Agrarüberschüssen in den achtziger und frühen neunziger Jahren in der damaligen EWG werden zunehmend die steigenden Inputs in die landwirtschaftliche Produktion in Frage gestellt. Gewässerbelastungen durch Einträge aus der Landwirtschaft, besonders seit den siebziger Jahren bestärken die öffentliche Kritik an der Intensivierung der Landwirtschaft. Ab den neunziger Jahren wird dieses Moment weiter verstärkt durch die sich zuspitzende Debatte um die grüne Gentechnik. Herbizidresistente, genetisch modifizierte Sorten werden zum Feindbild neu aufkommender Umweltbewegungen, die in Ihrer ablehnenden Haltung gegen jede Form moderner Inputs in der Landwirtschaft eine starke Identität finden. Landflucht und zunehmend urbane Lebensbedingungen fördern bei vielen Menschen eine tiefe, allerdings wenig reflektierte Natursehnsucht, die zunehmend auch auf die Landwirtschaft projiziert wird. Die öffentliche Meinung und die davon gestärkten NGOs werden so ab den 2000er Jahren zum dominierenden Einflussfaktor in der Pflan­zenschutzpolitik.

Die Folgen für den Pflanzenschutz sind tiefgreifend. Die alte ‚Knowledge chain‘, der Wissenstransfer von den Grundlagen- und angewandten Wissenschaften in die direkte technologische Umsetzung in der Praxis ist außer Kraft gesetzt. Anwendung findet nicht mehr das, was möglich, wirksam und vertretbar ist, sondern was nach der öffentlichen Wahrnehmung akzeptiert wird.

Auch in der Wissenschaft bleiben die öffentlichen Vorbehalte gegenüber modernen Inputs nicht ohne Folgen. Gerne will man die Bedenken aufgreifen und wissenschaftlich bearbeiten – eigentlich ein gutes Zeichen einer dem Wohle Aller dienenden öffentlich finanzierten Forschung. Bislang eher noch Orchideenfach, erhalten Disziplinen wie die Ökotoxikologie oder die ­Agrarökologie als neue Begleitdisziplinen der klassischen Agrarwissenschaften starken Aufwind. Sie müssten und könnten wertvolle Beiträge leisten, um dem Ziel eines verantwortungsvollen, also wirksamen und umweltgerechten Pflanzenschutzes zu dienen. Der Konjunktiv indes verrät, dass sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden.

Ursache ist eine unheilvolle Entwicklung ganz generell in weiten Teilen zumindest der Kultur- und Lebenswissenschaften. Das Unheil geht zuvorderst von den bestehenden Anreizsystemen für Forschende und den an Forschungsergebnisse geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen aus. Es braucht nicht viel Forschungserfahrung um zu wissen, dass Forschung nicht nur davon lebt, Phänomene unserer Welt aufzuklären, sondern auch davon, gleichzeitig darzulegen, dass ihre Themen hohe gesellschaftliche Relevanz haben.

Forschung ist ein Aufmerksamkeitswettbewerb geworden, denn die vorderen Plätze auf der Themen-Agenda erhalten die größten Zuwendungen. Auf der Agenda rückt nach oben, was auf vermeintliche oder tatsächliche Bedrohungen hinweist. Entwarnung und sachliche Einordnung sind hier kontraproduktiv.

Für die Ökotoxikologie ergibt sich daraus eine nachvollziehbare Konsequenz: Man muss natürlich fündig werden und das ist mit den heutigen Möglichkeiten der Analytik auch nicht schwer. Ein zweites unheilvolles Moment ist, dass man negative Ergebnisse fast nicht publizieren kann. Es darf daher niemanden überraschen, wenn die ökotoxikologische Literatur heute von Studien beherrscht ist, die ausschließlich positive Befunde darlegen, um daraus negative take-home messages abzuleiten, Studien, in denen allein die Existenz geringster Spuren einer Substanz mit Risiko gleichgesetzt wird, ohne dass eine kritische Bewertung der tatsächlichen Relevanz erfolgt oder effektive Kausalzusammenhänge dargestellt werden.

So wenig solche Studien die realen Risiken abbilden und damit einen Beitrag zu einem verantwortungsvollen Pflanzenschutz leisten, so gerne werden sie als Bestätigung öffentlicher Vorbehalte gegen den Pflanzenschutz herangezogen. Das inzwischen vorherrschende Vorsorgeprinzip der politisch Handelnden wird dadurch ad absurdum geführt, mit fatalen Folgen für die Erhaltung eines funktionstüchtigen Pflanzenschutzes.

Ähnlich unheilvolle Beziehungen sind in den ökologischen Wissenschaften wahrnehmbar. Die Treibermechanismen sind die gleichen. Möglichst spektakuläre Probleme zu beschreiben wird mit Fördermitteln, neuen Positionen und Instituten, hohen Zitierraten und Forschungspreisen belohnt. So wird schnell aus regional und zeitlich nur sehr begrenzt dokumentierten Abundanzschwankungen bei Insekten ein weit verbreitetes Insektensterben. Und weil es so plausibel klingt, wird es gleich auf die moderne Landwirtschaft und den Pflanzenschutz zurückgeführt, auch wenn dafür der kausale Nachweis fehlt.

Als nur eines von vielen Beispielen sei hier die ebenso bekannte, wie in ihren Wirkungen unheilvolle „Krefelder Studie“ genannt. Eine veritable Influencer-Studie, allein wohl deshalb, weil sie ein so dramatisches Ergebnis präsentiert. Die Autoren wollen einen Rückgang der Insektenbiomasse um aufsehenerregende 75 % über 27 Jahre ermittelt haben, obgleich sie in Wirklichkeit valide Daten nur für eine Zeitreihe von maximal vier Jahren vorlegen. Nachdenklich stimmen muss hier nicht allein die Tatsache, dass solch schlechte Wissenschaft in einer renommierten internationalen Zeitschrift publiziert werden kann, sondern dass gerade solche Studien als Argumentationshilfe von der Politik bevorzugt werden. Und: dass man als Autor dafür auch noch mit dem Deutschen Umweltpreis belohnt wird.

So erleben wir in der aktuellen dritten Epoche unserer Geschichte eine ganz neue Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Pflanzenschutz. Wissenschaft in Erfüllung der Erwartungen einer urbanen Gesellschaft, die von den Produktionsbedingungen der Landwirtschaft und damit von ihren eigenen Lebensgrundlagen weitgehend entfremdet ist.

Das besorgniserregende an diesem Befund hat eine weit über den Pflanzenschutz hinausgehende Dimension, verlieren die betroffenen Wissenschaftsbereiche hier doch grundsätzlich ihre eigenständige und unabhängige Stimme, eine Stimme, die wir als wahrheitssuchende und objektive Instanz heute dringend benötigten.

Das Bundesverfassungsgericht hat klar definiert, was Wissenschaft ist und durch die im Grundgesetz verankerte Wissenschaftsfreiheit geschützt sein muss, nämlich alles, „was nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist“. Die DFG nennt als Kernelemente der guten wissenschaftlichen Praxis, Ergebnisoffenheit, Würdigung der vollen Breite der Befunde und die Bereitschaft, Ergebnisse, auch die eigenen, stets anzuzweifeln.

In diesem Zusammenhang trennt das Grundgesetz in Art. 5 Wissenschaftsfreiheit klar von Meinungsfreiheit. Dort wird betont, dass wissenschaftliche Forschung und Lehre von sonstiger (insbesondere politischer) Kommunikation unterscheidbar sein muss und somit etwas Anderes als bloße Meinungsäußerung sind.

Aber genau das erleben wir gegenwärtig in Teilen der gerade für den Pflanzenschutz relevanten lebenswissenschaftlichen Begleitdisziplinen: Studienergebnisse sind von Meinungsäußerungen nicht mehr unterscheidbar und es braucht uns nicht zu wundern, dass eine solche Wissenschaft Argumentationshilfen selbst für die abwegigsten Maßnahmen der Agrar­politik liefert.

Der namhafte Philosoph Hans Blumenberg nannte das für sein Fach „Gefälligkeitsphilosophie“, aber solche Phänomene finden sich auch in anderen Gebieten. Der Kommunikationswissenschaftler und Philosoph Norbert Bolz mahnt in seinem neuesten Buch den zunehmenden Einfluss von „Gefälligkeitswissenschaftlern“ an, die bewirken, „dass Nachrichten aus der Wirklichkeit nur noch als Störgeräusche empfunden werden.“

Solche Nachrichten werden sogar eher ausgegrenzt. Sandra Kostner, Historikerin und Migrationsforscherin, spricht von „Agendawissenschaftlern“, die „versuchen, Forschung, die zu anderen Ergebnissen kommt als die eigene ideologisch motivierte, als moralisch verwerflich zu diskreditieren“.

Auch wenn sich die hier zitierten Bewertungen speziell auf die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften beziehen, deuten die von mir skizzierten Beispiele auf ähnliche Entwicklungen auch in den ­Agrar- und Lebenswissenschaften hin. Greifbare Folge sind die Fehlentwicklungen in der Pflanzenschutzpolitik der letzten zwei Jahrzehnte, für die kurioserweise Impulse gerade aus der Wissenschaft maßgeblich mitverantwortlich sind.

Die beiden ersten von mir definierten Epochen der wechselseitigen Geschichte von Wissenschaft und Pflanzenschutz waren von konstruktiven und lösungsorientierten Impulsen bestimmt. Die durch Rachel Carson mitausgelöste zweite Epoche hat ein Bewusstsein auch für die Technikfolgen geschaffen, welches ohne Zweifel mit zu den hohen Sicherheitsstandards beigetragen hat, die wir im Pflanzenschutz heute haben. Ganz zentral ist hier das Zulassungsverfahren zu sehen, welches bedenkliche Stoffe gar nicht mehr auf den Markt kommen lässt.

In der gegenwärtigen dritten Epoche bewirken Impulse aus der Wissenschaft erstmals eine klare Einschränkung der Funktionsfähigkeit des Pflanzenschutzes, einer Technologie, von der jeder weiß oder wissen sollte, dass sie angesichts der gewaltigen Herausforderungen der Ernährungssicherung von essentieller Bedeutung ist. Der zweite Unterschied zur vorhergehenden Periode aber ist auch, dass die fortgesetzten Forderungen nach immer weiterer Selbstbeschränkung keinerlei risikomindernden Nutzen mehr haben.

Wissenschaft kann nur in publica commoda, also zum Wohle aller sein, wenn sie unabhängig ist und die wissenschaftlichen Standards strikt einhält. Dann könnte sie vielleicht in einer vierten Epoche auch wieder dem Wohle der Landwirtschaft und somit dem publica commoda dienen, einer zwar noch visionären Epoche, die aber Sie, lieber Herr Zwerger – und wohl auch ich – dann mit lebhaftem In­te­res­se von der Tribüne aus verfolgen würden.

 

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