Journal für Kulturpflanzen, 75 (07-08). S. 216–218, 2023 | DOI: 10.5073/JfK.2023.07-08.10 | Bahrs
Möglichkeiten und Grenzen der Reduktion chemischer Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft aus ökonomischer Sicht
Wissenschaftlicher Vortrag anlässlich der Verabschiedung des Vizepräsidenten des JKI Dr. Peter Zwerger am 27.6.2023 in Braunschweig
Es ist kein Geheimnis, dass Kulturpflanzen Pflanzenschutz benötigen. Die Frage ist jedoch welchen? Eine Hilfestellung bietet dafür u. a. § 2 Nr. 2 Pflanzenschutzgesetz mit der Definition des Integrierten Pflanzenschutzes:
Kombination von Verfahren, bei denen unter vorrangiger Berücksichtigung biologischer, biotechnischer, pflanzenzüchterischer sowie anbau- und kulturtechnischer Maßnahmen die Anwendung chemischer Pflanzenschutzmittel auf das notwendige Maß beschränkt wurde.
Damit wird deutlich: Der chemische Pflanzenschutz ist die intendierte Ultima Ratio des Pflanzenschutzes für Kulturpflanzen. Die Praxis sieht anders aus. Der chemische Pflanzenschutz wird vielfach als vorzüglich wahrgenommen und als solcher in einem starken Maße in Anspruch genommen, auch weil es die betriebswirtschaftlich beste Lösung sein kann. Verbraucher und Verbraucherinnen wünschen günstige und qualitativ hochwertige sowie gutaussehende Lebensmittel und dies gelingt uns gegenwärtig offenbar am besten mit den bestehenden Verfahrensweisen unter Einsatz vergleichsweise höherer Mengen chemischer Pflanzenschutzmittel. D. h., die landwirtschaftliche Erzeugung ordnet sich diesem Wunsch unter. Wer diesem Grundprinzip nicht folgt, hat für seinen Absatzkanal für konventionelle Lebensmittel in der Regel zu hohe Produktionskosten. Hier zeichnet sich ein Marktversagen an, dass auf Externalitäten zurückzuführen ist. Ein geringerer Einsatz oder gar die Unterlassung des Einsatzes chemischer Pflanzenschutzmittel kann folgende betriebswirtschaftliche Konsequenzen für landwirtschaftliche Unternehmer und Unternehmerinnen haben:
geringere Erträge,
höhere Ertragsschwankungen mit entsprechenden Liquiditätsrisiken,
geringere Qualitäten,
höhere Arbeitserledigungskosten – der Herbizideinsatz ist ein Paradebeispiel für den Ersatz von Arbeit (Hacken und Striegeln) durch Kapital (Maschinen und Pflanzenschutzmittel),
geringere Arbeitszeitflexibilität für Landwirte – was insbesondere auch für Nebenerwerbslandwirte bedeutsam sein kann. Eine Unterlassung des Einsatzes chemischer Pflanzenschutzmittel könnte gerade im Bereich des Nebenerwerbackerbaus erhebliche Strukturveränderungen induzieren.
Somit steht die konventionelle Landwirtschaft vor einem Dilemma. Wer gegenwärtig Biomasse und insbesondere Lebensmittel produziert, muss aus „Marktgründen“ in einem höheren Maß chemische Pflanzenschutzmittel einsetzen, als es umwelt- und gesellschaftspolitisch gewünscht ist, um die eigenen Produkte noch mit Gewinn veräußern zu können. Lediglich einer vergleichsweise kleinen Gruppe ist es vorbehalten, ohne chemischen Pflanzenschutzmittel arbeiten zu können, weil die Gruppe der Verbraucher und Verbraucherinnen vergleichsweise klein ist, die bereit ist, für Lebensmittel ohne chemische Pflanzenschutzmittel und Mineraldüngereinsatz mehr Geld zu zahlen. Eine Zwitterposition nimmt dabei das Anbausystem ohne chemischen Pflanzenschutz, aber mit Mineraldüngereinsatz (NOcsPS) ein, das vom JKI neben der Universität Hohenheim sowie der Universität Göttingen begleitet und vom BMBF im Rahmen der Agrarsysteme der Zukunft gefördert wird.
Vor diesem Hintergrund bestehen mehrere Möglichkeiten, auf die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht zu hohen Einsätze chemischer Pflanzenschutzmittel zu reagieren, wenn insbesondere im Sinne des Umwelt- und Naturschutzes weniger davon eingesetzt werden sollen:
Technischer Fortschritt ist die Paradelösung, mit dem durch geringstmögliche Einsatzmengen chemischer Pflanzenschutzmittel ein höchstmöglicher Kulturpflanzenschutz erreicht wird und gleichzeitig keine Erhöhung der Produktionskosten verursacht werden. Im Bereich der Herbizide kann dies mittlerweile sehr gut umgesetzt werden. Für andere Wirkstoffgruppen erscheint dies aus gegenwärtiger Sicht jedoch herausfordernder. Somit müssen noch weitere Optionen ins Kalkül gezogen werden:
Verbraucher und Verbraucherinnen übernehmen die Mehrkosten der Lebensmittelherstellung ohne Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln in voller Höhe. Das ist die am wenigsten wahrscheinliche Variante:
Weil manche es nicht können,
Weil viele es nicht wollen, insbesondere wenn wir offene Märkte haben und Importe möglich sind, die sich nicht an dem Wunsch orientieren, weniger chemische Pflanzenschutzmittel einzusetzen.
Der Staat (Steuerzahler/innen) übernimmt alle oder ein Teil der Mehrkosten, wie z. B. durch die bestehenden Maßnahmen im Rahmen der 1. und 2. Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik und ggf. darüber hinaus. Dazu könnten auch Maßnahmen gehören, die nicht sofort naheliegend sind, wie z. B. die (Investitions-) Förderung von Systemwechseln in Anbausystemen und verstärkten Kreislaufwirtschaften mit Viehhaltung, wenn wir daran denken, dass Anbausysteme ohne Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel verstärkt mindestens einjährige Kleegras- oder Graskulturen in ihre Fruchtfolge benötigen, um den Beikrautdruck Herr werden zu können. Die aus synergistischer Sicht erforderlichen Wiederkäuer sind jedoch aus den typischen Ackerbauregionen mittlerweile stark verschwunden. Würden wir diese dort wieder hinbekommen?
Damit wird bereits angedeutet, dass zukünftig ein Mix an Maßnahmen erforderlich sein wird, um die nationalen und internationalen Zielsetzungen, mindestens 50 % weniger chemische Pflanzenschutzmittel (und dazugehörige Risiken) bis 2030 einzusetzen, erreichen zu können (siehe Green Deal der EU). Die Rahmenbedingungen werden dabei gerade abgesteckt und haben mit den Entwürfen zur „Regulation on the Sustainable Use of Plant Protection Products“ (SUR) aber auch des „Nature Restoration Law“ (NRL) der EU ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht und zeichnen sich auch mit der jüngst vorgelegten Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt des BMU ab, demnach in den nächsten Jahren der Anteil der bewirtschafteten landwirtschaftlichen Nutzflächen ohne chemische Pflanzenschutzmittel erheblich gesteigert werden soll. Wissenschaftlich manifestierte Begründungen, warum es gerade 50 % Reduktion (oder auch andere Prozentzahlen) sein sollen, sind jedoch bislang nicht klar erkennbar. Selbst bei den bislang bescheidenen Folgenabschätzungen der SUR wurden keine ausreichenden, (volkswirtschaftlich) substantiierten Analysen vorgenommen, die eine Legitimation einer bestimmten Prozentzahl aufzeigen würden. Bei diesen Folgenabschätzungen hätten darüber hinaus u. a. folgende Fragen, auch aus ökonomischer Sicht, beantwortet werden sollen:
Sind die Einsparziele des Green Deal beim Pflanzenschutz nicht bereits durch zu erwartende technische Fortschritte, veränderte Züchtungen und Anbaumethoden, verbesserter Aus- und Weiterbildung sowie noch innovativerer Prognosemodelle zu erreichen, unabhängig von der Notwendigkeit, bestehende und noch auszuweisende Schutzgebiete noch naturnäher zu gestalten?
Ist ein Verbot des chemischen Pflanzenschutzes in Schutzgebieten sakrosankt? Kann nicht auch ein punktueller Einsatz insbesondere bei wertschöpfungsstarken Kulturen, mit hoher Landschafts- und Kulturgutschutzfunktion aufrechterhalten bleiben, bei denen adäquate und ggf. zusätzlich zu etablierende vernetzte Saum- und Randstrukturen als Biotopverbünde eine hohe oder gar höhere Biodiversitätsleistung erbringen?
Sollten verstärkt in wertschöpfungsschwachen Kulturpflanzenarealen Flächen für den Naturschutz geschaffen werden? Oder anders ausgedrückt: Sollte es vielleicht insbesondere den pflanzenschutzintensiveren, aber wertschöpfungsstarken und landschaftsprägenden Sonderkulturen zukünftig erlaubt sein, mit Privilegien im Pflanzenschutz arbeiten zu dürfen? Wollen wir das mit viel Aufwand aufgebaute regionale Wissen und die dazugehörigen Wertschöpfungsketten um diese Kulturpflanzen aufgeben und anderen Ländern überlassen?
Welches Landschaftsbild und welche Kulturgüter werden von den regionalen Akteuren vor Ort erwartet? Wie würde man auf veränderte Landschaftsbilder reagieren, die sich der SUR anpassen?
Wie entwickelt sich der Strukturwandel in den maßgeblichen Regionen durch den Ad-hoc-Verzicht auf chemischen Pflanzenschutz und kann mit diesem Strukturwandel das gewünschte Landschaftsbild und die wirtschaftliche Prosperität der Region aufrechterhalten werden?
Wie groß ist die Bereitschaft von Landwirten in Schutzgebieten, auf Bio umzustellen und verträgt der (regionale) Markt so viel Bio?
Ist das regionale Aus- und Weiterbildungssystem sowie die vor- und nachgelagerten Bereiche der Landwirtschaft auf die Ad-hoc-Konsequenzen in Schutzgebieten der ursprünglichen SUR vorbereitet?
Wie groß sind die regionalen wirtschaftlichen Einbußen durch den Ad-hoc-Verzicht auf chemischen Pflanzenschutz wie z. B. Bodenwertreduktionen oder Umsatzrückgänge mit Arbeitsplatzverlusten…? Wer trägt die potenziellen Einbußen?
Welche Preisspitzen von Lebensmitteln werden wir zukünftig erleben, wenn wir aus insbesondere globaler Sicht großflächig erheblich weniger chemische Pflanzenschutzmittel einsetzen? Dabei ist zu bedenken: In Zeiten hoher Produktpreise bleibt der Anreiz hoch, viel chemische Pflanzenschutzmittel einzusetzen.
Wie soll das internationale Handelsrecht ausgestaltet sein, wenn europäische Landwirte und Landwirtinnen mit höheren Produktionskosten ihre Produkte erzeugen?
Was sind die Alternativen für Landwirte in den betroffenen Regionen mit erheblich erschwerten Produktionsbedingungen, sofern sie nicht mehr marktgerecht produzieren können?
Diese exemplarischen Fragen zur SUR sollten idealerweise simultan/ganzheitlich adressiert werden, mit bestmöglichen Antworten, die auch durch Vor-Ort-Konsultationen entwickelt werden. Aus ökonomischer Sicht sollten bei einer Folgenabschätzung geringstmögliche Kosten und höchstmögliche Leistungen bei der Reduktion der Wirkstoffmengen und der Wirkstoffrisiken entstehen, bei gleichzeitig ausreichenden Schutzgebietsflächen mit keinem oder erheblich geringerem Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel. Dabei sollte auch die Nebenbedingung ausreichender Selbstversorgungsgrade bei allen wichtigen Kulturen, inklusive Obst und Gemüse im Auge behalten werden, insbesondere wenn zukünftig fleischärmere Diäten maßgeblich sein sollen.
Der Umfang des Einsatzes chemischer Pflanzenschutzmittel innerhalb Deutschlands und der EU muss reduziert werden. Integrierter Pflanzenschutz muss stärker gelebt werden, flankiert durch ein angemessenes Förderungs- und Ordnungsrecht. Dabei wird zukünftig vermutlich gelten: Die Lizenz zum chemischen Pflanzenschutz bleibt nur dann jedem Landwirt und Landwirtin in der EU erhalten, wenn der Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel gemessen, kontrolliert und ggf. sanktioniert wird. Ansonsten kann der chemische Pflanzenschutz nicht zur Ultima Ratio des Pflanzenschutzes werden, wie das Pflanzenschutzgesetz dies vorsieht. Somit zeichnet sich ab, dass dem JKI im Pflanzenschutz aber auch in der Pflanzenzüchtung zukünftig eine noch bedeutendere Rolle zufällt, als es sowieso schon hat. Bedauerlich ist dabei, dass Kollege Zwerger nicht mehr dabei sein wird, weil er, wie ansonsten nur wenige Andere, Wissenschaftlichkeit mit Praxis verbindet, was in Zukunft noch bedeutender werden wird, als es jetzt bereits ist. Das JKI und die deutsche Landwirtschaft wird Prof. Dr. Peter Zwerger in der Funktion, die er bislang innehatte, sehr vermissen. Ich wünsche Ihnen, auch im Namen Ihrer ehemaligen Alma Mater, der Universität Hohenheim, für Ihre Zukunft alles Gute.
Fußnoten:
Im Sinne der besseren Lesbarkeit und in Anbetracht des Anlasses wurden Quellenverweise und ein Literaturverzeichnis nicht integriert. Bei Bedarf können diese beim Autor angefragt werden. |